Messumfang sowie Beschreibung der einzelnen optometrischen Messungen bei Kindern mit Lese- und Rechtschreibstörung

Einleitung

Der folgend beschriebene Messumfang sowie alle angeführten Messungen sind international üblich und durch zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten belegt. Alle Messungen werden im Beisein der Eltern oder eines Elternteiles durchgeführt.

Lesen ist eine spezialisierte Form der Kommunikation. Dem visuellen System kommt bei dieser Kommunikationsform eine sehr wichtige Aufgabe zu. Speziell bei Kindern die den Leseprozess erlernen, spielt ein exakt funktionierendes Visualsystem eine besonders große Rolle. Deutliches und bequemes Erkennen der zu lesenden Symbole, also der angebotenen Buchstaben, spielt beim Erlernen des Lesens deshalb so eine große Rolle, weil letztendlich diese vorab unbekannten Symbole identifiziert werden müssen bevor durch zielgerichtetes Üben ein effizientes Lesen erarbeitet werden kann. Unter effizientem Lesen versteht man, dass aus einem dargebotenen Text Wissen erarbeitet werden kann. Eine adäquate Sehschärfe ist eine Notwendigkeit, um Buchstaben zu erkennen und identifizieren. Der Begriff der Sehschärfe muss allerdings etwas erweitert werden. Nicht nur die monokulare (einäugige) Sehschärfe spielt eine Rolle, sondern auch die binokulare (beidäugige) Sehschärfe und die binokulare Nahfunktion. Zur binokularen Nahfunktion zählt eine gut und exakt funktionierende Naheinstellfähigkeit beider Augen (Akkommodation) sowie eine ausreichende und schnell funktionierende Einwärtsbewegung der Sehachsen (Konvergenzfähigkeit) des Augenpaares. Sowohl die Scharfstellung beider Augen als auch die Ein- und Auswärtsbewegung beider Augen muss harmonisch, rasch und ausdauernd funktionieren, um Lesen erlernen zu können.

Messumfang
Befragung zur Evaluierung der Symptome

Vor Beginn der Messungen werden standardisierte Fragen durchgearbeitet und eventuell vorhandene Symptome ermittelt. Die meisten Fragen richten sich direkt an die Begleitperson – meistens die Mutter des betroffenen Kindes, manche Fragen richten sich direkt an das betroffene Kind.

Befragung zur Evaluierung der Symptome (pdf)

Objektive Refraktion

Die Vorprüfung auf eventuelle signifikante refraktive Abweichungen erfolgt mittels Fernskiaskopie und MEM-Skiaskopie. Diese Messungen erfolgen vor der gegebenenfalls notwendigen subjektiven Refraktion.

Fernskiaskopie: Eventuelle refraktive Abweichungen der Augen werden mit einer für Kinder optimierten statischen Fernskiaskopie durchgeführt. Die Messung wird in 50 cm durchgeführt und dieser Abstand durch vorhalten von +2,00 D am rechten und linken Auge mittels des +2,00/-2,00 Flippers kompensiert. Dabei werden die Kinder angewiesen einen Kreis entsprechend Visus 0,8 am Polatest zu fixieren, eventuell erkennbare signifikante Refraktionsfehler werden mittels Messgläser in einer kindergerechten Messbrille ausgeglichen. Die skiaskopisch ermittelten dioptrischen Werte werden im Anschluss nochmals subjektiv (mittels Befragung des Kindes) abgeglichen.

MEM Retinoscopy (Monocular Estimation Method): Diese Überprüfung des akkommodativen Responses erfolgt nach der Korrektion eines eventuell vorhandenen Sehfehlers in der Ferne. Es wird in 40 cm skiaskopiert, am Skiaskop befindet sich eine geeignete Leseprobe. Das Kind blickt mit beiden Augen auf die Leseprobe und soll den Text vorlesen. Der Prüfer skiaskopiert das rechte und linke Auge und überprüft die tatsächlich eingestellte Akkommodation. Normalerweise findet man einen Wert zwischen + 0.25 bis + 0.75. Es wird die notwendige Korrektion bis zum Flackerpunkt nur monokular und kurz vorgehalten. Zuerst am rechten und dann am linken Auge. Ist eine höhere Korrektion als + 0.75 notwendig, dann ist der akkom­modative Response zu gering.

 

Sehschärfenbestimmung

Die Ermittlung der einäugigen (monokularen) sowie beidäugigen (binokularen) Sehschärfe soll in der Ferne in einer Entfernung von mindesten 5 Metern und in der Nähe mit standardisierten Sehzeichen durchgeführt werden. Kinder ohne Brillenkorrektion werden angewiesen ein Auge mit dem Cover- Occluder abzudecken und die Sehzeichen einzeln vorzulesen. Acht von zehn Sehzeichen müssen richtig gelesen werden, damit der Visus (Maß der Sehschärfe) als erreicht akzeptiert wird. Bei Kindern mit vorhandener signifikanter Brillen­korrektur (≥+1.00D Weitsichtigkeit, ≤-0.50D Kurzsichtigkeit, ≤-1.00DC Astigmatismus oder ≥1.00D Unterschied zwischen rechtem und linkem Auge) wird der gleiche Messablauf mit der Brillenkorrektion durchgeführt

 

Status des beidäugigen Sehens

Ideales beidäugiges Sehen liegt vor, wenn unter natürlichen Tageslicht-Bedingungen das Augenpaar ein in der Ferne liegendes Objekt, wenn nötig mit Korrektion, deutlich erkennt und auf beiden Augen die gleiche Sehschärfe (altersgemäße Sehschärfe) erreicht wird. Weitere Voraussetzung für ideales beidäugiges Sehen ist die exakte Fixierung des angeblickten Objektes mit dem rechten und linken Auge, damit das Bild des angeblickten Objektes tatsächlich jeweils im Sehzentrum abgebildet wird. Die exakte Fixierung sollte in jeder Entfernung ohne zusätzliche Muskelanstrengung erreicht werden. Viele Kinder und Erwachsene müssen aber zusätzlich Muskelkraft aufwenden, um exakt zu fixieren, in diesem Fall liegt ein Ruhestellungs­fehler (Heterophorie) vor. Zwei Prüfverfahren werden angewendet, die assoziierte Prüfung mittels Kreuztest und Prüfung mittels alternierendem Cover-Test.

Ideale, exakte Fixierung wiederum ist die Voraussetzung einer gleichwertigen Verarbeitung des Seheindruckes des rechten und des linken Auges in der Sehrinde. Werden die beiden Seheindrücke gleichwertig in der Sehrinde des Gehirns verarbeitet, dann wird auch dreidimensional (Sehen mit Stereopsis) gesehen.

Damit erklären sich die nächsten Messungen. Es wird also nun die Stereopsis gemessen. Weiters wird geprüft, ob ein Ruhestellungsfehler vorliegt.

Wird also eine altersmäßig adäquate Sehschärfe am rechten und am linken Auge ohne notwendige Korrektion und eine spontane Stereopsis bis zu einem sehr feinen Tiefenabstand erreicht und weiters kein Ruhestellungs­fehler gemessen, dann liegt Emmetropie (Rechtsichtigkeit) und Orthophorie (Augenstellung ohne Ruhestellungsfehler) vor.

 

Okuläre Motilität

Die Durchführung des Tests mit einer schwachen Lampe hat bei Kindern den Vorteil, das sowohl eine subjektive Antwort möglich ist und der Prüfer gleichzeitig objektiv den Lichtreflex auf der Cornea beobachten kann. Der Lichtreflex muss während der Blickverfolgung in beiden Augen in der Mitte der Pupille abgebildet werden. Liegt eine Störung der Motilität vor, dann wird das betroffene Kind zu einem Augenarzt weitergeleitet.

 

Prüfung der Naheinstellung

Bei jedem muskulären System können unterschiedliche motorische Eigenschaften wie Kraft, Ausdauer, Kontraktionsgeschwindigkeit, Haltekraft, Schnelligkeit und Koordinationsfähigkeit gemessen werden. Für jede dieser Eigenschaften muss ein jeweils geeigneter Test durch­geführt werden, bei einer Maximalkraftmessung kann eben nur die motorische Eigenschaft Kraft gemessen werden.

Das gleiche Prinzip kommt bei der Prüfung des Nahsystems, bestehend aus Akkommodation und Konvergenz, zur Anwendung. Mit einer einzelnen Messung des Nahsystems kann die Effektivität der Naheinstellung keinesfalls ausreichend beurteilt werden. Ein entsprechender Messumfang muss also abgearbeitet und die Messergebnisse müssen entsprechend ausgewertet werden, um eine sinnvolle und hilfreiche Korrektion zu empfehlen.

 

Scharfstellsystem der Augen (Akkommodation):

Ein emmetropes (rechtsichtiges) Augenpaar fixiert ein Objekt in der Ferne, das Objekt wird also in beiden Augen ohne notwendige Korrektion scharf (deutlich) auf der Netzhaut beider Augen abgebildet. Wird nun ein Objekt in der Nähe angeblickt, dann muss mit beiden Augen fokussiert werden, also die Brechkraft beider Augen erhöht werden, damit das Nahobjekt deutlich gesehen wird. Diese Anpassung der Brechkraft an unterschiedliche Entfernungen wird mit der Augenlinse durchgeführt, diesen Vorgang nennt man Akkommodation des Auges. Die Anpassung der Brechkraft bei einem Blickwechsel von der Ferne auf die Nähe bezeichnet man als positive Akkommodation und einen Blickwechsel von der Nähe auf die Ferne als negative Akkommodation.

 

Fixiersystem der Augen (Konvergenz):

Fixiert ein Augenpaar ein Fernobjekt, dann sind die Sehachsen beider Augen parallel Richtung Objekt ausgerichtet. Das Objekt wird einfach und nicht doppelt gesehen. Findet nun ein Blickwechsel von der Ferne in die Nähe statt, dann müssen beide Augen eine leichte Einwärtsdrehung vollziehen damit die Sehachsen in eine Konvergenzstellung gebracht werden, sich im angeblickten Nahobjekt treffen und das Nahobjekt einfach und nicht doppelt gesehen wird. Diese Anpassung der Sehachsen an unterschiedliche Entfernungen nennt man Konvergenz. Das Nachführen der Sehachsen bei einem Blickwechsel von der Ferne auf die Nähe bezeichnet man als positive Konvergenz und bei einem Blickwechsel von der Nähe auf die Ferne als negative Konvergenz.

 

„Kraft“ der Akkommodation:

Die Ermittlung der absoluten Akkommodation erfolgt einäugig – das zweite Auge wird abgedeckt - mittels “Push up Test”. Dabei wird ein kleines Sehzeichen so lange angenähert bis es undeutlich gesehen wird, dieser Vorgang wird 5- bis 10-mal wiederholt. Der Abstand der letzten drei Wiederholungen wird gemessen und der Durchschnittswert notiert.

 

„Kraft“ der Konvergenz:

Es wird der sogenannte Nahpunkt der Konvergenz (Near Point of Convergence NPC) gemessen, dabei wird eine Untersuchungslampe mit kleinem Lämpchen so lange angenähert bis das Kind die Lampe doppelt sieht oder der Prüfer eine Auswanderung eines der beiden Augen erkennt (break point). Nach diesem Moment wird die Lampe wieder langsam vom Kind entfernt bis die Lampe wieder einfach gesehen wird oder der Prüfer die wieder aufgenommene Fixation erkennt (recovery point). Dieser Vorgang wird 5- bis 10-mal wiederholt und der Durch­schnittswert der letzten Messungen notiert.

 

„Einstellgeschwindigkeit“ der Akkommodation:

Die Einstellgeschwindigkeit sowie die Festigkeit der Verknüpfung mit der Konvergenz wird mittels Accommodative Facility Test geprüft. Das Kind fixiert ein möglichst kleines Objekt in 40 cm Entfernung. Damit das Objekt deutlich gesehen wird muss das Augenpaar 2,5 dpt akkommodieren. Und damit das Objekt binokular einfach gesehen wird muss ein Winkel der Konvergenz von 13 cm/m aufgebracht werden (Abhängig vom Augenabstand). Durch Vorhalten des +2.00/-2.00-Flippers, ein spezieller Vorhalteclip, wird nun die Akkommodation gestört und die Kompensationszeit der Störung gemessen. Bei einer normalen und gut funktionierenden Verknüpfung zwischen Akkommodation und Konvergenz wird diese Störung 10 x bis 14 x pro Minute ausgeglichen. Dabei ist zu beachten, dass das Kind das Objekt deutlich und gleichzeitig einfach (nicht doppelt) sieht. Der „Accommodative Facility Test“ wird binokular und monokular durchgeführt. Ergibt sich binokular ein reduzierter Wert cm/m aber monokular ein normaler Wert c/m dann liegt eine accommodative Vergenzstörung vor. Ist der Wert c/m binokular und monokular reduziert, dann liegt eine Störung der Akkommodation vor und sollte mit einem geeigneten Nahzusatz korrigiert werden.

 

„Einstellgeschwindigkeit“ der Konvergenz:

Die Einstellgeschwindigkeit sowie die Festigkeit der Verknüpfung mit der Akkommodation wird mittels Vergence Facility Test geprüft. Das Kind fixiert in 40 cm Entfernung ein kleines einzelnes Seh­zeichen. Es wird ein Facility-Prisma 3 cm/m BI / 12 cm/m BA vorgehalten. Zuerst 3.00 BI bis das Kind sagt, dass das Objekt klar und einfach gesehen wird. Dann wird spontan auf 12.00 BA gewechselt und das Kind sagt wenn es das Objekt wieder klar und einfach sieht. Bei gut funktionierender Konvergenz sollten 16 Zyklen per Minute möglich sein. Ein Wert unter 10 cpm weist auf eine Störung der Vergenz hin. Wird die Verzögerung bei Vorhalten von 12.00 BO verursacht, dann ergibt sich ein Hinweis für eine Konvergenz Insufizienz.

 

Wir bitten um Terminvereinbarung unter +43 2672 82246 oder office@optikjeitler.at

Referenzen (pdf)